Erinnert ihr euch noch an meine Buchvorstellung von Juli Zehs „Unter Leuten“ im letzten Jahr? Ich war hingerissen von dem Roman und umso erfreuter, als vor knapp zwei Monaten ein weiteres Buch von ihr veröffentlicht wurde, nämlich „Leere Herzen“. Der Klappentext sprach mich sofort an, las er sich doch ziemlich dystopisch.
„Leere Herzen“ ist ein Polit-Thriller – und wer jetzt schon aufhört zu lesen, verpasst etwas. Politik ist ganz klar zwar ein zentrales Element des Romans. Jedoch wird das Bild der herrschenden Umstände so beiläufig gemalt, dass es lediglich die Kulisse der Handlung zeichnet. Statt konkreten Ereignissen geht er vielmehr auf die Stimmung im Land, auf die Stimmung der Bürger ein.
Braunschweig, im Jahre 2025. Merkel wurde von der Besorgten-Bürger-Bewegung, kurz BBB, abgesetzt. Die nun machthabenden Partei kämpft gegen Überfremdung, kontrolliert die Presse und verteilt das bedingungslose Grundeinkommen. Werte und Prinzipien hat die große Mehrheit der Büger nicht mehr. Sie wiegen sich in seichter Wohlfühlamtosphäre, gepaart mit frustriertem Zynismus, statt sich einer Auseinandersetzung mit dem, was kommen wird, zu stellen. Keiner traut sich mehr, für etwas zu Brennen, weil das ja fast schon etwas peinliches, etwas anrüchiges ist. Ideale sind tot.
So bildet sich der ideale Nährboden für neue Geschäftsmodelle, wie das von Protagonistin Britta Söldner und ihrem Geschäftspartner Babak Hamwi, einem Programmierer. Ihre gemeinsame Firma „Die Brücke“ bietet „Self-Managing, Life-Coaching und Ego-Polishing“ an – zumindest auf dem Klingelschild. Hinterm Klingelschild jedoch ist die Realität eine andere.
Es wäre doch gelacht, wenn sich Selbstmord nicht noch monetarisieren ließe.
Was Babak und Britta tatsächlich tun, ist ein derartig menschenverachtendes Modell, dass ich zunächst wirklich erschrocken war. Ein von Babak programmierter Algorithmus sucht im Internet nach potentiellen Selbstmördern. Anschließend kontaktieren sie diese und lassen sie ein 12-Stufen-Programm durchlaufen, das die suizidalen Tendenzen der Betroffenen auf Ernsthaftigkeit untersucht. Ist derjenige bereit, den Kontakt zu allen Verwandten und Freunden abzubrechen? Kann er einen Abschiedsbrief formulieren? Und zuletzt: ist ihm klar, was sterben bedeutet? Letzteres findet Britta anhand eines Waterboardings des Probanden heraus.
Sie wussten nicht, wofür sie am Leben waren, sie wissen auch nicht, für was sie sterben sollen.
Hat der Proband alle Stufen erfolgreich durchlaufen, hat er nun die Möglichkeit, *für* etwas zu sterben – statt einfach so. Verschiedene Terror-Organisationen stehen zur Wahl, die den Selbstmord als Attentat vergüten – so ist der Tod, sei es ideell oder materiell, zu etwas Nutze. Perfekt optimiertes Terror-Geschäft, bei dem auch die Regierung einmal mehr wegsieht – ist kontrollierter Terror mit kalkulierbaren Verlusten doch besser als jener, der nicht in Bahnen gelenkt, kontrolliert und abgerechnet werden kann.
Für Britta und Babak ist „Die Brücke“ ein lukratives Geschäft mit dem Tod.
Prinzipien zu kennen leugnen sie und haben nicht die geringste Lust, Schuldgefühle zu haben oder eine Mitverantwortung für die herrschenden Umstände zu übernehmen. Britta ernährt mit der Firma ihre Familie und lebt in ihrer kleinen, so heil wie eben möglichen Blase.
Doch dann erschüttert ein weiteres Attentat die Gesellschaft, und zwar so stümpferhaft ausgeführt, dass es nicht „Die Brücke“ gewesen sein kann. Dieses Ereignis ist der Beginn einer Verkettung von Umständen, die Brittas Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Sie ist gezwungen, ihr Leben, ihre Beziehungen, ihre Überzeugungen und Grundwerte noch einmal ganz neu zu überdenken…
In ihrem Inneren öffnet sich eine Luke, hinter der sich ein großer dunkler Raum verbirgt, den sie seit langer Zeit nicht mehr betreten hat. Sie stellt sich ein Schild neben der Luke vor: ‚Prinzipienlager – Zugang nur für Berechtigte!’ Sie hat sich immer eingeredet, dieser Raum sei vollkommen leer, weshalb es keinen Grund gebe, gelegentlich die Bestände zu sichten.
„Leere Herzen“ hat mich wie seinerzeit schon „Unterleuten“ gepackt und nicht mehr losgelassen, bis ich den Roman zu Ende gelesen hatte. Er zeichnet ein erschreckendes Bild unserer Gesellschaft – wie auch die Widmung auf den ersten Seiten des Buchs „Da – so seid ihr“ vermuten lässt. Das Szenario zeigt keine allzu abwegige mögliche Zukunft und ist daher umso alarmierender. Die wichtigste Botschaft des Romans ist zweifellos:
Ladies und Gentlemen,
begrüßen Sie einen neuen Titel auf der ohnehin schon in utopische Längen gewachsenen Leseliste!
Nein, ehrlich: Danke dir für diese schöne Rezension – jetzt habe ich noch mehr als vorher vor, Juli Zeh unbedingt dieses Jahr noch zu lesen. Beide Bücher. Nachdem ich viele der anderen Titel abgearbeitet habe, jedenfalls.
Das scheint wirklich sehr, sehr lohnenswert zu sein.
Liebe Grüße
Jenni
Unbedingt! Meine Leseliste ist auch unendlich lang, aber nachdem mich nun auch das zweite Buch so sehr überzeugen konnte, werde ich Juli Zehs andere Romane ganz nach vorne stellen 🙂 Es lohnt sich auf jeden Fall, ich bin gespannt, wie du sie finden wirst!
Liebe Grüße,
Kati